Dieser Beitrag ist ein Crosspost eines Gastbeitrags, der gemeinsam mit Christoph Huebner verfasst wurde und am 10. Mai 2017 beim ‘Neues Deutschland’ veröffentlicht wurde.
Warum es kein konterrevolutionärer Akt ist, für die IHK-Vollversammlung zu kandidieren, sondern viel mit einer fortschrittlichen Wirtschaftsdemokratie zu tun hat, erklären Fabio Reinhardt und Christoph Huebner
Sich für Fortschritt einzusetzen, ist seit der Wahl von Donald Trump wieder hipp. Auf Kundgebungen sein, sich für Europa einsetzen, sich in einer Nichtregierungsorganisation (NGO) engagieren oder gar Mitglied der SPD werden. All dies sind plötzlich vertretbare Freizeitaktivitäten. Und das ist auch gut so. Aber der Protest auf der Straße und Aktivitäten von NGOs sind trendabhängig. Und wenn es nicht mehr so hipp ist, dann erlahmt dies auch wieder. Diejenigen triumphieren, die davon profitieren, dass eben nichts fortschreitet. Grundlegender gesellschaftlicher Wandel wird über ausdauerndes Engagement auf vielen Ebenen parallel erkämpft. Eine dieser Ebenen ist die Wirtschaft. Auch wenn dies auf den ersten Blick nicht so naheliegend erscheint.
Wer über »die Wirtschaft« spricht, kann damit Unterschiedliches bezeichnen. Einige meinen die Orte, an denen unsere Güter hergestellt werden. Andere meinen Unternehmen und Arbeitgeberverbände. In jedem Fall: Die Wirtschaft berührt einen erheblichen Teil unseres Lebens. Wir kaufen ihre Produkte. Wir arbeiten in ihren Betrieben. Sie beeinflusst mit ihren Werbebildern unser Freizeitverhalten, die Art, wie wir Freundschaften pflegen, Partner suchen und die Welt sehen. Wirtschaft betrifft uns alle.
Das Bewusstsein für den Einfluss der Wirtschaft auf unser Leben – und dafür, dass andersherum auch wir Einfluss auf sie nehmen können und müssten – wächst beständig. Watchgroups wie Pinkstinks oder Lobby-Control setzen mit ihrer kritischen Beobachtung wirtschaftliche Akteure unter Druck und können sie dazu bringen, ihr Handeln zu verändern. Doch es gibt noch direktere Formen, auf die Wirtschaft und ihre Vertretungen Einfluss zu nehmen. Diese Vertretungen sind die Branchenverbände und branchenübergreifende Verbände wie die Industrie- und Handelskammer (IHK).
Die IHK hat eine besondere Rolle. Sie versteht sich als Gesamtwirtschaftsvertretung – und sie tritt auch so auf. In die umstrittene Kampagne zur Bewerbung Hamburgs für die Olympischen Spiele brachte sich die IHK der Hansestadt massiv mit ein. Die Berliner IHK machte im Jahr 2014 leidenschaftlich gegen den Volksentscheid zur Nichtbebauung des Tempelhofer Felds mobil. Und auch nach dem Erfolg des Entscheids setzte sie sich 2016 weiter für eine Bebauung ein. Auch beim Energievolksentscheid hat sich der Verband in zweifelhafter Weise positioniert.
Diese zweckfremden Aktivitäten haben ihren Preis: Im vergangenen Jahr hatte die Berliner IHK Einnahmen von 56 Millionen Euro, größtenteils über Pflichtmitgliedsbeiträge. Der Protest gegen die Pflichtmitgliedschaft, die durch Anmeldung eines Gewerbes automatisch erfolgt, und die übertrieben hohen Mitgliedsbeiträge wären schon Grund genug, die IHK von innen heraus zu reformieren. Für gesellschaftlich Aktive kommt noch ein Grund hinzu: Die Wahlen zur IHK-Vollversammlung vom 2. bis 29. Mai bieten die Chance, die Ausrichtung der IHK grundlegend zu verändern und damit im progressiven Sinne wirtschaftliche und politische Veränderungen voranzubringen.
Dabei sind die 280 000 wahlberechtigten Mitgliedsunternehmen nicht nur große Unternehmen wie Siemens und Vattenfall, sondern vor allem eine Vielzahl Selbstständiger und Kleinunternehmer*innen. Allerdings bekommen viele gar nicht mit, dass IHK-Wahlen stattfinden. Bei dem letzten Urnengang lag die Wahlbeteiligung in Berlin bei sechs Prozent. Es könnte also vergleichsweise einfach sein, durch die Beteiligung der Selbstständigen und Kleinunternehmer*innen an der Wahl, progressive Positionen in die IHK hineinzutragen und dafür zu sorgen, dass sie sich nicht vor allem als Vertretung der Großindustrie begreift. Wer Vollversammlung und das Präsidium kontrolliert, kann zudem Beitragshöhe und Pflichtmitgliedschaft hinterfragen.
In Hamburg ist dies bereits der Fall. Dort haben die »Kammerrebellen« im Januar 95 Prozent der Sitze im Plenum errungen. Ähnliches versucht die Initiative mitmachIHK bei der Berliner Wahl. 280 000 Berliner*innen, die ein Gewerbe angemeldet haben, können dann über die IHK-Führung und damit über die politische Ausrichtung des Verbands abstimmen. Wählen kann sich lohnen. Zumindest im Mai.