Eine Mauer des Schweigens

Crosspost von der Freitag-Community

Viel wird diskutiert über die Rolle, die Frauen zugewiesen wird: Aufopferungsvoll und fleißig, konsensorientiert und gutmütig und sanft und verzeihend, passiv und liebevoll. Und bei alldem auch noch hübsch aussehen. Frauen, die aus diesem Bild ausbrechen, zum Beispiel um Chefposten anzustreben und Führungspositionen einzunehmen, müssen immer noch mit erbittertem Widerstand rechnen. Nicht umsonst sind Frauen weniger lange in den viel Durchsetzungsfähigkeit erfordernden Parteien und weniger häufig in den Vorständen von großen Unternehmen vertreten.

Mittlerweile wird auch immer häufiger darüber diskutiert, welches Rollenbild Männern zugewiesen wird, welche Grenzen und welche Einschränkungen sie dadurch erfahren. Für Männer, denen traditionell das Geschlechterbild der Ernährer- und Beschützerrolle zugewiesen wird, gilt vor allem, dass sie keine Schwäche zeigen dürfen. Sie müssen stark, cool, unnahbar und überlegen wirken, Emotionen bleiben verborgen und damit unterdrückt. Judith Holofernes bemängelt durchaus zurecht im Interview mit der FAZ, dass sie scheel dafür angeschaut wird, wenn sie ihr Baby während eines Termins ihrem Mann anvertraut, während dies anders herum nicht gilt. Männer wiederum stoßen noch immer auf viel Unverständnis, wenn sie sich eine Elternzeit nehmen, können gleichzeitig schlechter damit umgehen, wenn sie arbeitslos werden, eine Beförderung nicht bekommen oder sie in der direkten Konfrontation unterliegen, da sie in Gefahr geraten als “Versager” wahrgenommen zu werden..Auch dies ist eine Konsequenz aus den gesellschaftlich festgelegten Rollenbildern, aus denen auszubrechen es noch immer schwer ist.

Ein besonders schlimmes Resultat der Geschlechterrollenfixierung ist für Männer die mangelnde Fähigkeit, Konflikte zu ertragen und verarbeiten. Während typisch männliche Rituale wie “sich Anschreien und danach zusammen trinken gehen” bei Konflikten mit Kollegen oder Freunden typisch weiblichen Ritualen ebenbürtig oder sogar überlegen sein mögen, gilt dies nicht für die Bewältigung besonders schlimmer und traumatisierender Ereignisse. Gerade in Bürgerkriegsgebieten, wo das Leid von Kindern und Frauen sehr intensiv thematisiert wird, gerät das erduldete Leid von Männern oft in den Hintergrund. Schuld daran sind auch die Männer selbst, die nicht fähig sind, ihr Erlebnis aufzuarbeiten oder überhaupt öffentlich anzusprechen, was aber vor allem an den übertriebenen Männlichkeits-Anforderungen der jeweiligen Gesellschaften liegt.

Der Hauptunterschied zu den weiblichen Opfern ist, dass sie sich meist an niemanden wenden können. Der Grund dafür ist die tiefgreifende Tabuisierung dieses Themas durch die Gesellschaft. Für Familienväter ist die Möglichkeit des Outings mit katastrophalen Konsequenzen verbunden. Vergewaltigt zu werden wird traditionell als Verbrechen an Frauen angesehen, ergo ist das Opfer seiner Männlichkeit beraubt. Es kann seine Beschützerrolle in der Familie nicht mehr wahrnehmen. Sogar das Brechen des Schweigens gegenüber der eigenen Frau kann zum Bruch der Ehe führen. Will Storr schreibt dazu in einem spannenden Artikel für den Guardian zu diesem Thema über Ehefrauen, die sich nach dem privaten Geständnis fragten, wie ihr Mann sie in Zukunft schützen soll, wenn er schon nicht einmal sich selbst beschützen kann. Sie packten ihre Sachen zusammen und verließen, zusammen mit den Kindern, ihren Mann, dem es dann natürlich das Herz brach.

Oft gibt es eine stille Übereinkunft zwischen Opfer und Täter, nicht über die Tat zu sprechen. Ein Abkommen, das Vorteile für beide Seiten enthält. Denn gerade in Afrika kann man durch das Brechen seines Schweigens in große Schwierigkeiten mit den Behörden kommen, ohne auf viel Unterstützung hoffen zu dürfen. In Uganda zum Beispiel unterliegen Opfer von Sexualverbrechen immer dem Risiko, von den Behörden als Homosexuelle identifiziert und festgenommen zu werden. Kein Wunder, ist dies doch in 38 der 53 afrikanischen Staaten noch immer ein Verbrechen, das zum Teil mit schweren Strafen geahndet wird.

Daher kommt es auch, dass es zu diesem Thema kaum belastbare Zahlen gibt. Die Studien, die es bisher gibt, legen nahe, dass das Thema in der Öffentlichkeit stark unterrepräsentiert ist und eigentlich eine wesentlich breiteren Aufarbeitung bedürfte. Eine der wenigen Studien, die auch sexuell motivierte Verbrechen an Männern mit einbezieht, wurde 2010 im Journal of the American Medical Association veröffentlicht. Demnach meldeten 22% der Männer und 30% der Frauen im Ostkongo sexuell motivierte Übergriffe. Lara Stemple vom Health and Human Rights Law Project der Universität Kalifornien legte in einer Studie den Fokus speziell auf die Vergewaltigung an Männern. In der Studie Male Rape and Human Rights untersuchte sie an Männern verübte Sexualverbrechen als Waffe des Krieges und der politischen Aggression in Ländern wie Chile, Griechenland, Kroatien, Iran, Kuwait, der früheren Sowjetunion und im früheren Jugoslawien. Allein ihre Untersuchung von 6000 Inhaftierten im Konzentrationslager von Sarajevo stellte fest, dass 80% der Männer vergewaltigt worden waren. Besonders interessant ist auch ein Bericht, den Will Storr für den Guardian anfertigte, nachdem er in Uganda mit traumatisierten männlichen Opfern sexueller Gewalt sprach.

Mittlerweile wird das Thema auch in Afrika, zumindest in speziellen Kreisen, stärker thematisiert. Will Storr berichtet im Guardian, über das Refugee Law Project (RLP) der Universität von Makerere, in dem Bürgerkriegsopfern aus vielen verschiedenen afrikanischen Ländern geholfen wird, über ihre Traumata zu sprechen und diese zu verarbeiten. Auch hier war es bis vor wenigen Jahren nicht vorstellbar, mit Männern über ihre erlebte Vergewaltigung zu sprechen. Inzwischen hat sich dies geändert. 2009 veranlasste der Direktor des Projekts, Dr. Chris Dolan, dass in Kampala auf Plakaten für einen Workshop zu diesem Thema geworben wurde. 150 Männer erschienen. Einer von ihnen meldete sich und gestand, dass es quasi allen Männern passiert sei. Nachdem unter den 200.000 Flüchtlingen in Uganda herumgesprochen hatte, dass im RLP auch männlichen Opfern sexueller Gewalt geholfen wird, kamen immer mehr Opfer und meldeten sich zu Wort.

Dennoch muss noch einiges aufgeholt werden. Viele Hilfsorganisationen haben Hilfsprogramme für Frauen, jedoch keine für Männer. Bei einigen wird Vergewaltigung per se als Verbrechen gegen Frauen definiert. Hillary Clinton kündigte kürzlich $ 44 Mio. zur Umsetzung der UN-Sicherheitsrats-Resolution 1325 (PDF) an. Leider werden auch in dieser Resolution aus dem Jahre 2000 Sexualverbrechen in Kriegszeiten als etwas definiert, was grundsätzlich nur Frauen passiert. Die Tatsache, dass auch Männer Opfer von Kriegen sind und auch schwach und hilfsbedürftig sein können, ist bei vielen Organisationen noch nicht angekommen oder wird bewusst ignoriert. Das könnte daran liegen, dass die Höhe der Hilfsmittel für Opfer von Gewalttaten und Vergewaltigung bereits festgelegt sind. Eine stärkere Thematisierung der Gewalt gegen Männer würde voraussichtlich nicht zu einem höheren Gesamtbudget führen.

Schaden tut man damit jedoch beiden Seiten. Männer werden in ihrem Anspruch auf Unverwundbarkeit bestätigt und daran gehindert, mit ihren schwachen Momentan offen umzugehen. Frauen werden noch stärker in die Opferrolle gepresst. Ein Hinterfragen dieser als unverrückbar angesehenen Ansichten erscheint in diesem Lichte dringend notwendig und würde sowohl dem Moloch UNO als auch internationalen Hilfsorganisationen gut zu Gesicht stehen. Und wir, die wir in einem Land frei von Bürgerkrieg leben, können viel von den Geschehnissen in diesen Gebieten lernen und uns die Frage stellen, wieviel wir selbst noch aufzuholen haben.

2 Comments

Welchen Feminismus brauchen wir?


Folgenloses Verbalduett

Als Alice Schwarzer Bundesfamilienministerin Kristina Schröder im November 2010 in einem offenen Brief als inkompetente und unempathische Fehlbesetzung bezeichnete, konnte diese sich eigentlich schon gratulieren lassen. Denn anstatt dass sich die Öffentlichkeit nun mit den Details von Schröders in einem vorausgegangenen Spiegel-Interview getätigten Aussagen auseinandersetzte, lag der Fokus nun auf der Kritik der einstigen Ikone der Frauenbewegung. Damit hatte die übliche Empörungs- und Profilierungsmaschinerie zwischen Medien und Politik reibungslos funktioniert. Schröder konnte sich als pragmatischer und moderner Widerpart zur Radikalfeministin Schwarzer profilieren. Die Patriarchin Schwarzer widerum konnte gegen die “Stammtischparolen” der in der jungen Union sozialisierten schwarz-gelben Ministerin polemisieren und zugleich ihre Macht demonstrieren, indem sie in der Debatte ein Maximum an Aufmerksamkeit auf sich zog.

Auf der Strecke blieben dabei die Inhalte und alle anderen Protagonistinnin, die der Diskussion etwas beisteuern hätten können. Im Vordergrund standen nun vor allem die Attacken Schröders gegen Alice Schwarzers einst geäußerte Ablehnung von Sex zwischen Mann und Frau, da dieser grundsätzlich die Unterwerfung der Frau beinhalte. Umso umstrittener diese leicht angreifbaren Maximalforderungen einzelner Vertreter der frühen feministischen Bewegung sind, desto leichter durchschaubar wirkt der Seitenhieb Schröders auf die Patriarchin als Einladung zum folgenlosen Verbal-Duett der beiden Damen anstatt einer konstruktiven Diskussion im größeren Rahmen.

Mangel an männlichen Rollenbildern

Dabei hatten es andere Sätze Schröders durchaus in sich und verdienten mehr als nur den platten Vorwurf, unter der neuen Bundesfrauenministerin habe sich – so Schwarzer – “weder die Lage der Familien verbessert noch ist die Gleichberechtigung der Frau vorangekommen”. Mit der Ablehnung einer gesetzlich verankerten Frauenquote in Unternehmen und der Konstatierung einer weiblichen Mitschuld an den Gehaltsunterschieden zwischen den Geschlechtern kann sich Schröder eng an die Romanautorin Bascha Mika berufen. Diese konstatiert in ihrem vielbeachteten Buch “Die Feigheit der Frauen” (Bertelsmann-Verlag, 2011) einen Mangel an Durchsetzungswillen bei jungen Frauen, die Errungenschaften der Emanzipation zu nutzen und auszubauen. Nach Mika sind es vor allem die Frauen, die die klassischen Rollenbilder zwar vordergründig ablehnen, dann aber in der Folge die für sie bequemsten Entscheidungen treffen, bis sie sich zuletzt doch in dem von der Gesellschaft für sie bereit gestellten Bild einrichten und damit ihre Chance zur wahren Emanzipation verpassen.

Mit ihrer Kritik an einem Mangel an männlichen Rollenbildern in Grundschulen und Kindergärten trifft Schröder wiederum den Zahn der Zeit derjenigen, die versuchen, die Dekonstruktion des weiblichen Rollenbildes nicht durch eine Zementierung des männlichen Bildes marginalisieren zu lassen. Ähnliches gilt auch für ihre Betonung, dass familienorientierte Arbeitsplatzpolitik nicht nur dem Kinderwunsch junger Frauen, sondern auch Männern zugute komme. In Zeiten der Zweiverdienerfamilie und eines eklatanten Kitaplatzmangels im Westen der Republik scheint dies durchaus geboten. Zwar macht sie sich dadurch angreifbar für diejenigen, die ihr vorwerfen, neoliberale Klientelspolitik zu betreiben, da sie den Anforderungen des Kapitalismus an den modernen, flexiblen Arbeitnehmer nichts entgegensetze. Allerdings wird diese Kritik nur vereinzelt geäußert. Die Zeiten früher femnistischer Sozialistinnen wie Rosa Luxemburg, die erst über den Umweg der auch damals schon männlich dominierten Kapitalismuskritisk zu ihrem feministischen Weltbild gelangte, scheinen vorbei.

Die “Alpha-Mädchen” greifen Schwarzer an

Dass man an Schwarzer nicht vorbeikommt, wenn man über Feminismus diskutiert, wird auch von anderen Feministinnen immer wieder bemerkt. In dem Buch “Wir Alpha-Mädchen” (Hoffmann und Campe, 2008) versuchten sich einige Bloggerinnen an einer Skizzierung eines modernen Feminismus. Sie rechneten scharf ab mit dem Radikalfeminismus früherer Zeiten und kritisierten Schwarzers paternalistische Einstellung gegenüber Kopftüchern, Sex und Pornografie. Über das Blog maedchenmannschaft.net versuchten sie dem Diskurs eine Wendung zu geben.

Nach vielen Blogeinträgen, Artikeln und Interviews zum Thema zierte eine von ihnen im Frühjahr 2011 den Titel der EMMA-Ausgabe zusammen mit Autorinnen des Missy Magazins. Überpräsent in der Mitte des Bildes ist – wie könnte es auch anders sein? – Alice Schwarzer. In großen Lettern prangt darunter “Kein Bock auf Spaltung”.

Dominanz durch Feminopopulismus

Was von der Teilnehmerin des Treffens und maedchenmannschaft-Autorin Katrin Rönicke als gegenseitiges Beschnuppern und ein gemeinsames Statement, dass der Krieg “Jung gegen Alt” beigelegt sei, bewertet wurde, wird von anderen als eine Art erneute Kapitulation gewertet. Taz-Journalistin und Feministin Julia Seeliger wirft Schwarzer Feminopopulismus vor. Sie schreibt: “[…] wer Schwarzer unterstützt, unterstützt auch diese entleerte, auf Medienfeedback – und nicht auf Emanzipation – orientierte Politik.” In der TAZ legt sie nach und kritisiert, Schwarzer habe doch “den Medienstreit zwischen den Generationen fröhlich mit befeuert”.

Populismus wurde Schwarzer auch im Fall Kachelmann vorgeworfen. Dort hatte sie für die BILD berichtet. Kachelmann stand für sie von Anfang an als prototypischer Täter fest. Dabei bezog sie sich aber kaum auf die tatsächliche Faktenlage, sondern führte moralische Argumente an und warf ihm vor, Frauen enttäuscht zu haben und auf Sexspielchen zu stehen. In ihrem Blog schrieb Schwarzer: “Vielleicht geht Ihnen aufgrund Ihrer Sexualpraktiken aber auch alles durcheinander. Vielleicht wissen Sie gar nicht, dass das kein Spielchen ist, wenn eine Frau im Ernstfall Nein sagt, sondern Ernst. Und übrigens: Auch nette Männer vergewaltigen manchmal, Kollege Kachelmann.”

Wie wichtig es für Schwarzer ist, die Debatte zu dominieren und der erste Ansprechpartner für alle Fragen rund um den Begriff Feminismus zu bleiben, sieht man auch an ihrer eigenen Geschichte. Die Mitgründerin und Herausgeberin der Frauenzeitschrift Emma hatte im Frühjahr 2008 die Chefredaktion von Emma an die Fernsehjournalistin und Kolumnistin Lisa Ortgies übergeben. Doch bereits im Mai 2008, nur acht Wochen nach der Übernahme, musste Ortgies wieder ausscheiden. Schwarzer führte die Chefredaktion selbst weiter. Ortgies selbst äußerte später, sie habe ihre Ideen für die Zeitschrift nicht durchsetzen können. “Schwarzer hatte”, so vermutete es das Magazin Der Spiegel “weiterhin das Tagesgeschäft dominiert und so einen möglichen Generationswechsel und Modernisierungskurs zum Scheitern gebracht.”

Fazit: Eine Neudefinition ist unumgänglich

Der Feminismus leidet heutzutage unter den gleichen Erscheinungen, wie andere Politikfelder auch: Die Ungerechtigkeit ist auf dem Papier abgeschafft, in der Realität aber geblieben. Die Fragen sind komplexer geworden. Und die Pfründe der Protagonisten werden verbissener verteidigt. Es scheint allen klar, dass der Feminismus dringend eine präsentierbare und wahrnehmbare Neudefinition benötigt; nicht zuletzt, um zu verhindern, dass das Bundesfamilienministerium diese selbst vornimmt und dabei diejenigen außen vorlässt, die sich seit Jahren darum bemühen. Schwarzers polarisierender Dogmatismus ist dabei eher hinderlich, zumal sie mittlerweile als Feindbild ihren Gegnern mehr bringt als ihren potentiellen Verbündeten als Vorbild. Wie genau diese Modernisierung aussehen könnte und wer die neuen Protagonisten sein werden, bleibt weiterhin unklar.


Anmerkung: Eine stark gekürzte Version dieses Artikels findet sich im aktuellen Straßenfeger mit dem Titel “Frauen”.

6 Comments

Das digitale Paradoxon


Menschen streben nach zwei Dingen: Nach festen Strukturen, die ihnen das Gefühl von Sicherheit geben. Und nach einer größeren Anzahl an Optionen, die ihnen Freiheit vermitteln. Mit der “Digitalen Gesellschaft” reiht sich eine weitere Organisation ein in die Liste der Gruppen, die Strukturen zur Erringung von mehr Freiheit anbieten – eigentlich ein Paradoxon, das einzugehen Menschen in der Regel einem nicht unerheblichen Druck ausgesetzt sein müssen. Doch Druck gibt es momentan in unserer Gesellschaft genug, Empörungspotential ist vorhanden. Politiker, die dem Druck von Lobbyinteressen nachgeben, sich um ihr Image sorgen, die Handlungs- und Herrschaftsfreiheit des Staates in Gefahr sehen oder einfach nur an den durchschnittlichen Wähler im Wahlkreis denken, der die Bürgersprechstunde besucht; stets lauert in den widerstreitenden Interessen rund um die Nutzung des Internets das Risiko, sich zur falschen Seite zu neigen und die Netznutzer zu erzürnen. Und auch Aktivierungspotential, aus dem man schöpfen könnte, ist ausreichend vorhanden. Denn diejenigen, die von früh an das Netz nutzen, sind oft gut informiert, engagiert im Kampf um ihren Lebensraum, keine schlechten Verdiener und – wie es der Name schon andeutet – gut vernetzt.

Nun also die Digitale Gesellschaft. Ich wünsche ihr Glück. Denn wo auch immer sich Bürger zu wichtigen Themen zusammen finden, freut es mich, dass sich Empörung oder Lust auf Mitbestimmung in konkrete Aktionen Bahn brechen. Die einzige Frage wäre bei dieser Organisation, ob sich überhaupt jemand zusammen findet, der sich nicht vorher schon zusammen gefunden hatte, der sich nicht vorher schon im Umfeld von Netzpolitik.org engagiert hatte und den Aufrufen zu Telefonaktionen oder Redesign-Wettbewerben folgte. Aber das kann nur die Zukunft zeigen. Und außerdem generiert es schon einmal Aufmerksamkeit. Das immerhin funktioniert ja nicht nur bei Den Anderen.

Aber noch mal langsam, was ist denn eigentlich der Ursprung des Problems der Netznutzer? Die Politiker machen Staatsverträge und Gesetze, die uns nicht gefallen. Aber Politiker sind ja nicht doof und nicht alle haben ein grundlegend anderes Staatsverständnis als wir. Viele sind sicher schlichtweg überfordert. An dieser Stelle kann es auch helfen, wie Beckedahl dies erklärt hat, als positiver Netzlobbyist Einfluss zu nehmen und über Gesetze, Regeln, Mechanismen aufzuklären. Ich habe das selbst bereits getan, indem ich für La Quadrature du Net Brüssel und Straßburg besuchte und dort für die Ablehnung des Gallo-Berichts und ACTA und die Annahme der Deklaration 12 warb. Die von Beckedahl als Vorbild genannte französische Organisation mit ihrem Aushängeschild Jérémie Zimmermann ist ein großartiger Vorkämpfer für die Netzgemeinde. Ihre Struktur ist simpel: Sie hat nur vier Mitglieder, die werden für ihre Arbeit bezahlt, aber zahlreiche Spender und Unterstützer für Telefonaktionen. Transparenz wird in der Form gewahrt, dass die Mitglieder mitteilen, was sie getan haben, was sie vorhaben zu tun, wieviel Spenden sie erhalten haben und wofür diese ausgeben wurden. Außerdem lassen sie von Unabhängigen schätzen, wieviel Geld sie für die anstehenden Aufgaben benötigen. Einfluss wird nur über das Messen von Spenden und freiwilligem Engagement gewährt.

Wäre dies also ein gangbares Modell für Digitale Gesellschaft? Mitnichten. Die Spender an LQDN können sich darauf verlassen, dass Jérémie in ihrem Sinne handelt, denn LQDN hat nur ein Ziel: Die Freiheit des Netzes! (Der Name des Vereins soll symbolisieren, dass der Versuch der Internetzensur so etwas wie die Quadratur des Kreises darstellt. Das Erkennungszeichen ist folgerichtig Pi.)
Beckedahl und co jedoch haben schon einen bunten Blumenstrauß an Themen formuliert: Von Datenschutz bis Netzneutralität, von Urheberrecht bis Open Data (Offene Software auch?). Natürlich sind das alles wichtige Dinge, aber für eine schlagkräftige Lobby-Organisation täte eine Eingrenzung Not. Denn dass die Themen Datenschutz und freies Internet oft genug aneinander prallen, wissen wir nicht erst seit Google Street View, Spackeria und Radiergummi.

Auch der Eintritt für offene Software oder eine Überarbeitung des Urheberrechts  ist keine Ein-Richtungs-Kampagne, sondern eine komplexes Feld. (Immerhin tritt Beckedahl, genau wie seine Partei, die Grünen, für die sehr umstrittene Kulturflatrate ein) Genau wegen dieser Mehrdimensionalität wenden große Organisationen mit Positionierungen auf vielen Themenfeldern auch so viele Ressourcen für Richtungsfindung und Aushandlung von internen Kompromissen auf (Stichwort Piratenpartei). Dies dient ja nicht nur (aber sicherlich auch) der Ego-Befriedigung. Und die Einbindung von Interessierten und Mitgliedern bis hin zur Einflussnahme auf Entscheidungen spielt dort aus pragmatischen sowie Legitimationsgründen eine zentrale Rolle.

Alternativ wäre für die Digitalen eine klare und transparente Kampagnenführung und Priorisierung notwendig, damit man nicht denkt, dass man mit seiner Spende die Katze im Sack kauft. Stattdessen wird dort nicht einmal klar, wer überhaupt Mitglied ist. Nur das Gesicht von Beckedahl wird in den Medien gesehen. (Sind die Gesichter auf den Bildern der “Warum-Kampagne” etwa die anderen 19 Mitglieder? Wir werden rätselnd zurück gelassen.) Auch die genaue Ausrichtung und die konkreten Vorhaben bleiben im Dunkeln. Dabei ist dies prägend für unsere analoge Gesellschaft. Denn die oben gestellte Frage nach dem Problem der Netzpolitik ist auch anders beantwortbar: Vielleicht mangelt es ja bei den Parlamentariern auch nicht so sehr an Wissen, sondern an Kontrolle, uns fehlt es an Transparenz, welche Lobbykontakte bestehen und wie intensiv diese genutzt werden. Dies sehen Beckedahls offenbar ähnlich: Einer der kommunizierten Themen ist “Lobby-Transparenz”. Doch um dieses Feld anzugehen, müsste man wohl erst einmal mit gutem Beispiel voran gehen. (Wie auch SpON findet.)

Klar ist: Nur zwei der drei Einheiten “Spenden bekommen”, “Einfluss nehmen” und “Think Tank sein” sind gleichzeitig möglich. Für einen progressiven Think Tank wäre sicherlich noch viel Platz, wobei Netzpolitik.org und Re:publica da schon einiges leisten. Für einen Einfluss nehmenden Lobbyisten à la “La Quadrature” auch. Doch ein Think Tank mit offenem Themenspektrum und Impulsen an die Netzgemeinde und eine Lobbyorganisation mit konkreter Kampagnenstrategie gleichzeitig zu sein verträgt sich schlecht miteinander. Denn dann wird es für die Spender nicht mehr möglich sein, genau zu wissen, wofür oder wogegen nun gerade genau Einfluss genommen wird. Denn – und das sagt Beckedahl ja selbst auch – das Internet ist mittlerweile überall in unserer Gesellschaft. Das heißt so gut wie jede Politik ist auch Netzpolitik. Und bei den vielen Themen, die vertreten werden sollen, ist nicht ganz klar, welches Thema nun gerade bei der politischen Einflussnahme Priorität genießt. Wie dem auch sei. Ich wünsche jedenfalls der Digitalen Gesellschaft viel Glück – unserer digitalen Gesellschaft!

——–
Weitere interessante Kommentare zu diesem Thema:
Julia Seeliger: Digitale Gesellschaft ohne Community
Andi Popp: Die Lobby-Epidemie
RA Stadler: Internet-Lobbyismus: Digitale Gesellschaft
Mr. Topf: Old School Klüngelgesellschaft e.V.
FIXMBR: Die Digitale Gesellschaft ist nicht die digitale Gesellschaft
Ruhrbarone: Erfolg statt Basisdemokratie
– und auch die CDU hat sich mittlerweile geäußert…
…und viele andere.

 

8 Comments

Two Wings to fly…Berlin

Erst letzte Woche habe ich versucht, die Umstände um die zweite Landesmitgliederversammlung der Berliner Piraten 2011 aufzudröseln. Mittlerweile habe ich mich (und sie sich auch) länger gefragt, ob und inwiefern gewisse Konflikte innerhalb der Piraten vielleicht strukturelle Ursachen haben. Nach strukturellen Ursachen zu suchen ist sinnvoll, wenn man nicht einzelne Personen für grundsätzliche Probleme verantwortlich machen will und nach langfristigen Lösungen sucht. Nachdem ich mehrere Ideen gefunden und wieder verworfen habe, denke ich, dass ich einen Ansatz gefunden habe, der in der Lage ist, die grundsätzlichen Probleme zu erfassen. Ich beziehe mich insbesondere auf den Berliner Landesverband, da ich diesen besonders gut kenne. Der Erklärungsversuch ist jedoch nur exemplarisch. Andere Landesverbände können sich unter Umständen genau so angesprochen fühlen. Wobei in Nicht-Stadtstaaten die regionalen Strukturen und Schwerpunkte wohl mehr ins Gewicht fallen. Eventuell taucht das Problem dort aber einfach zeitverzögert auf.
Mein Erklärungsansatz in Kürze, danach in längerer Form. Die Hypothese lautet: Es handelt sich hier um ein Aufeinandertreffen von zwei verschiedenen Polen, deren Ansprüche in ihrer Extremversion kaum mit einander vereinbar sind. Ausgleichsmöglichkeiten und -verpflichtungen werden ignoriert und mit Buzzwords wie “unpiratig” oder “intransparent” abgetan. Stattdessen wird versucht, eine einzige gemeinsame Identität aufzubauen, die im Extremfall abweichende Meinungen oder abweichendes Verhalten unter Verratsverdacht stellt.
Dazu wird die Situation dadurch verkompliziert, dass viele Piraten sich selbst nicht ausreichend zuordnen können. Statt dessen werden Entscheidungen und Wahlen oft nach einem Bauchgefühl oder nach persönlicher Sympathie getroffen oder es werden Maßstäbe angelegt, die sich den perfekten Kandidaten herbei phantasieren. Die Situation erinnert ein wenig an die Realos und Fundis bei den Grünen in den 80ern. Auch dort, war es wichtig, die Debatte zu führen.
Die Berliner Pragmatiker
Die prominenten Berliner Pragmatiker sind vor allem in Mitte, Prenzlauer Berg und Reinickendorf zu finden. Als Beispiel müssen hier Christopher Lauer, Martin Delius, Manuela Schauerhammer und Michael Schulz dienen. Sie haben zum Teil langjährige Erfahrung in Parteien/Organisationen und/oder Politik, sie streben in Verantwortung und bringen sich vor allem bei Aktionen wie der Vorbereitung von Mitgliederversammlungen, Wahlkampfaktionen sowie der Presse-/Öffentlichkeitsarbeit ein und machen konkret Politik. Sie wollen die 5% gewinnen, erfolgreich sein und nicht in Schönheit sterben.
Kritik: Die Pragmatiker haben es nicht geschafft, sich sinnvoll zu vernetzen. Viele trauen sich noch nicht einmal zu dem Bekenntnis, dass sie Realisten sind, da es geradezu verpönt zu sein scheint in einer Partei, die sich Politik 2.0 auf die Fahnen geschrieben hat. Und Politik 2.0 heißt in erster Linie nicht digital, sondern besser und anders. Dabei ist Pragmatiker sein nichts Schlimmes. Im Gegenteil ist es notwendig, die Realisten in den Reihen zu haben. Sie treiben, sie ziehen und sie behalten den politischen Zirkus im Auge. Sie machen Politik, verzichten im konkreten Fall auf die idealisierte Vorstellung einer besseren Politik.
Die Berliner Idealisten
Die prominenten Berliner Idealisten sind vor allem in Friedrichshain, Lichtenberg und Schöneberg anzutreffen. Als Beispiel herhalten müssen Lena Rohrbach, Andreas Pittrich und Georg Jähnig. Des Weiteren auch Björn, Jan und Andreas Nitsche (Dass sie sich aus der Partei verabschiedet haben, ist an dieser Stelle nicht relevant, jedoch ein offensichtlicher Verlust). Sie vermeiden die Anhäufung von Macht, lehnen zusätzliche Hierarchie-Ebenen (z.B. Bezirksverbände) und einen politischen Vorstand tendenziell ab. Sie haben fast das gesamte Landes-Parteiprogramm geschrieben und Liquid Democarcy erdacht. Die Zahl vor dem Komma beim Wahlergebnis ist weniger wichtig, hauptsache man verliert seine Werte nicht. In extremer Form: Am besten die Wähler kommen einfach zu uns, weil wir das beste Wahlprogramm haben.
Kritik: Die Idealisten wirken oft, als würden sie Verantwortung meiden wollen. Da sie aber gleichzeitig auf Wahlverfahren bestehen, die einen möglichst umfassenden Konsens des Landesverbandes abbilden, wirkt es so, als wollten sie aus der zweiten Reihe Kritik üben und wären vor allem destruktiv motiviert. Das blendet jedoch aus, wie viel Arbeit diese Gruppe leistet, ohne ihre Anerkennung dafür einzufordern.
Ist das nicht zu simpel gedacht?
Was hier beschrieben wurde, waren jetzt natürlich nur die extremen Pole. Die meisten Mitglieder werden irgendwo auf einer breiten Spannbreite dazwischen liegen. Und natürlich ist nicht jeder Pragmatiker in der Sache auch Realist im Programm. Vielmehr verläuft die Konfliktlinie nicht im Inhaltlichen, sondern in der konkretem Umsetzung der gemeinsamen Ziele.  Ich selbst bin zum Beispiel ziemlicher Pragmatiker, habe aber trotzdem am Programm mitgeschrieben und habe dort z.B. in den Bereichen Asyl und Integration Akzente gesetzt, die wohl nicht primär mit Realpolitik zu tun haben. Was die Programmtik angeht, sind wohl die meisten Piraten ziemlich nah am Bereich Idealismus zu verorten, warum sonst wären sie bei der Piratenpartei? Die Sache scheidet sich – wo konkrete politische Verantwortung noch weniger im Vordergrund steht – auch eher, mit welchen Mitteln man unser Programm an den Wähler bringt. Und da wird mir innerhalb meiner Fridrichshainer Crew oft genug bewusst, wie sehr ich Pragmatiker bin. Zum Beispiel wenn es um die Frage geht, ob man flächendeckend Direktkandidaten aufstellen sollte und ob die Motivation zum Kandidieren in jedem Fall auch sein muss, das Mandat anzunehmen.
Weiter verkompliziert wird die Sache natürlich dadurch, dass man nicht unbedingt als Pragmatiker oder Idealist in die Partei kommt und sich dort erstmal selbst entdecken muss. Auf dieser Entdeckungsreise begleiten einen oft andere Piraten, mit denen man sehr interessante und prägende Erfahrungen macht. Diese müssen auf der Pragmatismus/Idealismus-Skala aber nicht unbedingt auf der gleichen Wellenlänge liegen. Im Gegenteil ergänzen sie sich ja je nachdem sehr gut und manchmal sind unpolitische Gemeinsamkeiten, wie Humor, nunmal ein stärkerers Verbindungselement. Um so schmerzhafter ist es später, wenn Forderungen dieser Peer-Group den eigenen Vorstellungen nicht entsprechen und umso geneigter ist man dann, sich der Tendenz der Peer-Group anzupassen.
Einige Idealisten identifizieren sich intensiv mit den Pragmatikern. Diese streben politisch so gar nicht in ihre Richtung und stehen dem basisdemokratischen Interesse der Idealisten eigentlich diametral gegenüber, werden aber als aktiver wahrgenommen. Es vermischen sich Idealisten und Pragmatiker und werden zu “Machis”. Dies war wohl einer der gruppendynamischen Effekte, die den Konflikt rund um die “7Piraten”-Gruppe noch verkompliziert hat. Zusätzlich kam dort die Unfähigkeit hinzu, die eigenen Ziele klar und deutlich und vor allem öffentlich zu kommunizieren.
Eine andere Berliner Piratin, bei der die Sachlage wohl ansatzweise ähnlich ist (nur eben anders herum) ist Piratesse. Sie ist wohl die talentierteste und an sich auch konsequentenste Realpolitikerin, die die Berliner Piraten haben. Zu sehen war dies sehr gut daran, dass sie am härtesten von Idealisten (Jan, Björn, Andreas) wegen der Plakatgeschichte in Prenzlberg stark kritisiert wurde, wo pragmatische Entscheidungsfreude auf idealistisches Tabu-Bestehen geprallt ist. Statt ihre pragmatische Linie offen heraus zu komminizieren und zu verteidigen, assoziiert sich Manu stark mit einer Gruppe von Idealisten um Lena herum. Dadurch wird ihre eigene realpolitische Herangehensweise verwischt. Da sie bei der Kritik der Gruppe an pragmatischer Herangehensweise üblicherweise ausgenommen wird, verliert die Kritik der Gruppe an Glaubwürdigkeit und der Anschein der “Wünschis” entsteht.
Das soll nun nicht heißen, dass man nicht in Gruppen Zeit miteinander verbringen darf, wo Idealisten und Pragmatiker aufeinandertreffen und sich widersprechen. Im Gegenteil sollte man in Crews durchaus nach regionalen Gemeinsamkeiten und nicht nach homogener Interessenslage zusammenarbeiten.
Warum brauchen wir sowohl Idealisten als auch Realisten?
Denn dass wir beide Grupen dringend brauchen, steht außer Frage. Die Idealisten sind es, die uns befähigen, kreative und innovative Politikkonzepte zu erarbeiten. Sie erinnern uns an unsere Werte und Ideale. Sie machen bei uns noch den entscheidenden Unterschied zu den anderen Parteien, die ihre Idealisten schon lange vertrieben oder kaltgestellt haben (Wie dieser schöne Artikel über die lernunwillige SPD zeigt).
Die Pragmatiker sind diejenigen, die uns daran erinnern, dass es nicht nur Aufgabe einer Partei ist, sich tolle Dinge auszudenken, sondern diese auch dem Bürger zu vermitteln und dann in konkreter politischer Verantwortung umzusetzen. Im Klartext: Die Pragmatiker können uns helfen, die 5 %-Hürde zu überspringen, an der wir ohne sie immer kleben bleiben würden.
Woher kommt dann der Konflikt?
Der aktuell schwelende und aufgebrochene Konflikt resultiert vermutlich sehr stark aus dem Nichterkennen und -lösen der aktuellen Problemlage. Dadurch wurden einige entscheidende Fehler gemacht. Obwohl die Situation sicherlich sehr komplex ist, werden hier einige Punkte aufgelistet.
Fehler 1: Trennung von Orga und Programmatik
Im Jahr 2010 haben sich die Berliner Idealisten vor allem auf die Programmarbeit konzentriert, während die Pragmatiker in erster Linie die LMVs und weitere Aktionen organisiert haben. Hierbei konnte man sich sehr gut aus dem Weg gehen. Den Konflikt hat es jedoch nur verstärkt. Eine erste Eskalation gab es dann zwischen den Parade-Extremen Lena und Christopher, die Anfang des Jahres in einem Telefonat aufeinandertrafen und bisher auch nicht aufeinander zugehen wollen.
Fehler 2: Teamwahl
Ende 2010 gab es zwischen einigen möglichen Kandidaten für das Abgeordnetenhaus erste Anzeichen deutlicher Differenzen. Doch statt die Ursachen zu ergründen, wurde an den Symptomen herum gedoktert. Es wurde überlegt, ob eine Teamwahl das Problem umschiffen würde, da man so eine harmonische Gruppe wählen könnte. Mit diesem Ansatz wurde jedoch das Problem nur verschärft. Letztendlich gab es zwar keine Teamwahl, aber eine Abwahl zu harter Pragmatiker, von den Idealisten kandidierte aber kaum jemand. Statt nicht zusammenarbeiten zu wollen, hätte man sich da schon darauf konzentrieren müssen, das Trennende heraus zu arbeiten, einen Modus negotiandi zu finden und zu versuchen, beide Gruppen auf der Liste repräsentiert zu sehen.
Fehler 3: Konfusion von Interessen
Wie oben schon geschrieben, wirken einige Kandidaten momentan unglaubwürdig, weil sie private Präferenzen und politische Vorstellungen vermischen. Dies macht auch die Lokalisierung des Problems schwer und birgt die Gefahr, es von einer politisch-strukturellen Ebene auf eine persönliche Ebene zu verlagern.
Fehler 4: Mangelhafte/falsche Vernetzung
Leider haben die Realisten (und damit auch ich) einen ziemlich schlechten Job damit gemacht, sich untereinander zu vernetzen. Sich in der immer gleichen kleinen Gruppe treffen und  sich selbst immer wieder gegenseitig in seinen Ansichten zu bestätigen,  ist kein sinnvoller Ersatz für das langfristige und nachhaltige Werben um Mehrheiten. So hat es einige Berliner Realisten vor den Kopf gestoßen, als sie  auf der 1. Mitgliederversammlung von einer gefühlten (erhofften?)  scheinbaren Mehrheit (die sie bei vernünftiger Vorbereitung auch hätten  haben können) deutliche Dämpfer bekommen haben. Um sich zu vernetzen, muss man sich natürlich erst einmal bekennen (outen).
Inwiefern hilft uns dieser Ansatz?
Ich weise noch einmal darauf hin, dass es sich hierbei nur um eine Theorie handelt. Diese mag richtig oder falsch sein. Für ihre Richtigkeit spricht jedoch, dass man mit ihrer Hilfe einige Fragen beantworten kann. Wenn man sich zum Beispiel die Situation vor der zweiten Mitgliederversammlung vor Augen hält, dann war es dort für viele Piraten schwer, das Verhalten der sogenannten “7Piraten” auch nur ansatzweise nachzuvollziehen, ohne ihr  Verhalten einfach nur auf Hybris oder Bösartigkeit zu schieben. Im Rahmen meiner Theorie ist es möglich, eine angemessene Forderungshaltung zu formulieren, die das Ganze wesentlich verständlicher macht. Die extreme Formulierung der Wahrnehmung einiger Pragmatiker könnte lauten: “Wir reißen uns hier den Arsch auf und übernehmen konkret Verantwortung, wollen nun auch auf politischer Ebene Verantwortung übernehmen, während ihr euch dieser verweigert. Wir haben uns entschieden, wer von uns am geeignetsten ist und nun wollt ihr auch noch darüber bestimmen, welche unserer Kandidaten ihr für geeignet haltet und welche nicht!” Diese Sichtweise mag überzogen dargestellt sein, würde aber gemäß meiner Theorie eine alternative Erklärung zur egoistischen Nibelungentreue bieten, die so bei vielen Piraten empfunden wurde und ein extrem schlechtes persönliches Licht auf die Gruppe geworfen hat.
Ach ja, und wo ist eigentlich Liquid Feedback zu verorten? Sollte man das Tool eher pragmatisch oder idealistisch einsortieren? Die Antwort auf diese Frage sollte die Sache vielleicht etwas klarer machen: Beides! Und das konnte man auch sehr gut an der Art und Weise sehen, wie das Tool von den verschiedenen Vertretern verteidigt wurde. Denn Christopher – ganz Pragmatiker – hob ja stets hervor, dass es ganz pragmatische Gründe für die Einführung gab (Meinungsaustausch, Parteitagsvorbereitung, Kostenersparnis) und als Alleinstellungsmerkmal in der Parteienlandschaft öffentlichkeitswirksam sei. Von anderen Befürwortern wiederum wurde es als Demokratierevolutionierer angepriesen. Dort sieht man den direkten Unterschied zwischen Pragmatikern und Idealisten. Im besten Fall ergänzen sich also beide Sichtweisen, statt sich zu behindern.
Lösungsansätze
Ich denke, dass die Theorie es durchaus ermöglicht, einiges an Lösungsvorschlägen herauszuarbeiten. Dies kann man natürlich in einem einzigen Blogpost weder vollständig aufrollen noch führt das Finden von Lösungsvorschlägen automatisch zu einer Lösung. Aber zumindest kann man an dieser Stelle einige Impulse geben. Vielleicht sind diese auch sinnvoller als Problemursachen nur auf menschliches Versagen und persönliche Animositäten herunter zu brechen, “die man schon lösen wird, wenn man einfach nur genug miteinander redet.” Reden hilft nicht, wenn man keine gemeinsame Gesprächsebene hat und die strukturellen Probleme mit einem mahnenden “Wir sind doch alle Piraten!” umschifft und hinauszögert. Hier also ein kurzes “Wie kriege ich einen effizienteren und harmonischeren LV in 6 Schritten”, ohne Anspruch auf Erfolg:
Schritt 1: Erkenne an, dass es in der Piratenpartei verschiedene Pole im Spannungsfeld zwischen Pragmatismus und Idealismus gibt und dass keiner dieser Pole “piratiger” ist als der andere. Beide Pole sind wichtig.
Schritt 2: Überlege dir, welchem dieser Pole du dich eher zugehörig fühlst. Wenn du Delegiertensystem, Bezirksverbände, politischen Vorstand.und Direktkandidaten ablehnst, bist du vermutlich ziemlicher Idealist. Man muss natürlich nicht gleich Pol sein, sondern man kann auch an einem beliebigen Ort in der Mitte schwimmen.
Schritt 3: Überlege dir, wie du mit den Piraten, die sich in diesem Spannungsfeld ähnlich fühlen, gut zusammenarbeiten kannst und ihr eure Ziele effektiv in der Partei (gerne auch im Vorstand) vertreten könnt.
Schritt 4: Überlege dir, ob du mit den Piraten, mit denen du “gerne und gut zusammenarbeiten” kannst, die aber gar nicht deine Interessen vertreten, nicht lieber mehr Zeit privat verbringen möchtest. Grundsätzlich solltest du versuchen, zwischen Partei und privat zu trennen.
Schritt 5: Versuche Kontakt aufzunehmen mit den Piraten, die sich im Spannungsfeld anders fühlen und tausche dich intensiv aus. Versucht zu Themen, die euch beide bewegen, konkurrierende Anträge in Liquid Feedback oder für Parteitage zu stellen. Lobt die Inhalte und die Konstruktivität der anderen, während ihr betont, warum eure Forderung die Piraten besser voran bringt.
Schritt 6: Seht euch in einem dauernden konstruktiven Schlagabtausch. Ihr werdet beide gebraucht. Ein zu deutlicher Sieg über die andere Seite würde auch für dich eine Niederlage bedeuten. Versucht fair zu sein und bedenkt, dass es meistens nicht einfach eine “richtige” und eine “falsche” Sichtweise gibt.
Als kleinen Bonus gibt es für alle, die bis hierher gelesen haben, noch ein kleines Video von Peter Kruse zu digital visitors und digital residents, den verschiedenen Polen im Netz.

 

26 Comments

Meine Rede zum bundesweiten Aktionstag

Am 22. März war der bundesweite Aktionstag gegen die Residenzpflicht, Lagerzwang und Sachleistungsprinzip. (Hier gehts zur Kampagne) Die Berliner Piratenpartei, die sich im Oktober 2010 ein sehr progressives Migrationsprogramm gegeben hat, hat die Kundgebung am Heinrichplatz mit manpower und technischem Equipment unterstützt. (Meines Wissens die erste Unterstützung einer Flüchtlingsdemo dieser Art.) In den nächsten Monaten soll die Kampagne ausgebaut werden. Ziel ist die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG), welches erstmals seit 18 Jahren auf dem Prüfstand steht. Wer sich in dieser Kampagne stärker engagieren will, sollte Kontakt zu den Initiatoren aufnehmen, kann sich aber auch gerne direkt an mich wenden.

Die verschiedenen teilnehmenden Gruppen, darunter die Initiative gegen das Chipkartensystem, die Kampagne Oury Jalloh und die Linkspartei hielten Redebeiträge. Von der Rede, die ich gehalten habe, existiert auch eine Videoqaufzeichnung. Im Folgenden ist hier noch der Text der Rede im Wortlaut.

 

“Wir schreiben das Jahr 2011. Ein Mann wohnt in der Nähe von Meinersen in einem Flüchtlingswohnheim. Er ist Nepalese. Er wartet auf seine Anerkennung als Flüchtling. Er wartet bereits seit 15 Jahren. Während er wartet, gibt es keine Privatsphäre. Er lebt mit vier bis sechs Personen auf einem Zimmer. Der Hausmeister und der Lagerleiter kontrollieren die Anwesenheit. Die Ausländerbehörde übt Druck aus. 75 Menschen teilen sich je einen Toilettenraum und einen Duschraum für Männer und einen für Frauen. Die Flure sind eng. Es gibt keinen Zugang zum Wäscheraum. Regelmäßig sind zwei der drei Pissoirs defekt. Es gibt nicht einen einzigen Gemeinschaftsraum – nicht ein Spielzimmer, Schulaufgabenzimmer oder Gemeinschaftszimmer für die Erwachsenen. [1] Dann endlich, nach 15 Jahren, bekommt der Mann Bescheid. Er wird abgeschoben. Nach 15 Jahren Abgeschiedenheit als Geduldeter, nach all der Zeit mit Beraubung elementarer Freiheiten und Selbstbestimmung, die er überstanden hat, weil er in seiner Heimat keine Hoffnung mehr sah, soll er nun dorthin zurück. Am 1. März 2011 werden sich viele Fahrgäste auf der Fahrt zwischen Hannover und Wolfsburg verspäten. Der Mann sah keinen Ausweg mehr.

Doch dies war kein Einzelfall. Die menschenunwürdige Behandlung von Flüchtlingen hat in Deutschland System. Die irrationale Angst davor, dass wir irgendwann mal ganz wenige Deutsche und ganz viele Ausländer sind, steckt in diesem Land drin. Das Grundgesetz und internationale Konventionen schreiben uns vor, Asylanträge zuzulassen, zu prüfen. Doch was wird gemacht? Die Anträge werden verzögert. Aus nichtigen Gründen abgelehnt. Die Menschen werden in unsichere Drittstaaten überstellt, wo man sie garantiert abschiebt. Und diejenigen, die hier warten, werden mit Rabattmarken und ohne Bewegungsfreiheit in Lagern gehalten. Diese Politik ist unsozial und stellt Deutschland ins Abseits. Sie ist wirtschaftlich fatal und hilft lediglich einigen Konzernen wie K&S, die sich an der Lagerpolitik bereichern. [2] Zugleich sorgt der Lagerzwang dafür, dass sich möglichst wenig Deutsche berührt fühlen, da das Elend der Flüchtlinge ja kaum zu sehen ist.

Das muss ein Ende haben! Die Menschen hier sollen sich schlecht fühlen. Die derzeitige Flüchtlingspolitik muss in die Mitte der Gesellschaft getragen werden. Zu wenige Mitbürger sehen, dass sie das Problem etwas angeht. Aber es geht sie etwas an. Eine Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie mit den Schwächsten in ihrer Mitte umgeht. Und das aktuelle Zeugnis ist kein Modell für die Zukunft. Und unsere Chancen dazu sind besser denn je. Über das Internet lässt sich schneller mobilisieren. Über das Internet lassen sich Informationen schneller verbreiten. Lasst uns die Flüchtlingslager an die Gesellschaft anschließen. Lasst diesen Aktionstag nur Auftakt sein für eine Welle der Solidarität und der Hoffnung. Lasst uns in den nächsten Monaten Druck ausüben, damit das Asylrecht reformiert wird, damit das Bundesverfassungsgericht das Asylbewerberleistungsgesetz aufhebt. Lasst uns die breite Masse der Menschen informieren und neue Gruppen für die Thematik interessieren. Nur im kleinen Kreis lässt sich das Problem nicht lösen. Lasst uns den Menschen erklären, was es sie angeht. Denn es geht jeden etwas an. Lampedusa ist nicht nur in Italien. Lampedusa ist überall.”

 

Seb Jabbusch war so nett, einige Bilder hochzuladen. Hier geht es zur Gallerie. Es folgt noch eine Auswahl an Fotos.

 

2 Comments

Selbstloser Rettungsversuch oder dummdreiste Erpressung? – Update


Schon wieder muss ich über die Piraten schreiben. Dabei würde ich viel lieber über Dinge  schreiben, welche ich aus gutem Grunde in meinem Blog in eine andere Kategorie sortiere. Leider muss ich schon wieder die Rolle des Beobachters in der Partei einnehmen, die mir aufgrund meiner eigenen Kandidatur und meiner fast direkten Beteiligung eigentlich nicht zusteht. Ich werde aber versuchen, verschiedene Perspektiven und Argumente mit einfließen zu lassen.

Vorgeschichte

Am 26. Februar wurde eine Landesliste für die Abgeordnetenhauswahl der Berliner Piraten gewählt. Seit Monaten war dies das Trending Topic Nummer 1 im Landesverband. Lange Diskussionen rankten sich um das Wahlverfahren. Letztendlich entschied sich eine Mehrheit im Landesverband dafür, das bisher noch nie auf Landesebene eingesetzte Schulze-Müller-Wahlverfahren zu benutzen. Das Wahlverfahren ist sinnvoll, um in einem Wahlgang eine ausgewogene Gruppe von Kandidaten zusammen zu stellen und durch die Präferenzwahl besondere Ablehnungen auch besonders zu berücksichtigen, nicht jedoch, um speziellen Personen spezielle Plätze zuzuweisen. Allein die Wahl dieses Wahlverfahrens zeigt den Willen, auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner für die Liste zu kommen, um eventuelle Konflikte um Personen nicht eskalieren zu lassen. (Die Piraten als Nicht-Polit-Profis sollten sich zweimal überlegen, ob sie die Bewertung von Personen öffentlich machen wollen oder wie man sie gegebenenfalls auf verantwortungsvolle, nicht-transparente Weise vornehmen könnte.)

Diese wurde korrekt durchgeführt und ausgezählt. (Hier die Präferenzprofile von Jorges) Bei der Auswertung, die zu dem oben verlinkten Ergebnis führte, wurde jedoch ein Schritt vergessen, wegen dem die Stichwahl dreier (für die Frage, ob eine Person auf den ersten acht Plätzen steht) wenig relevanter Plätze 1, 5 und 14 nicht mehr durchgeführt wurde. Das Ergebnis wurde aber fälschlicherweise nach der im Liquid Feedback täglich benutzten Methode ausgewertet. Von der Sache her war es also kein Problem, sondern es ging (erst einmal) nur um die Formalie, nicht das in der Wahlordnung festgeschriebene Verfahren “Schulze” (also mit Stichwahlen) durchgeführt zu haben. Die wesentlich leichter auszuzählende Approval-Variante wäre übrigens zu einem sehr ähnlichen Ergebnis gekommen. Die Landesmitgliederversammlung muss nun nachgeholt werden. Dies wird am 19./20. März geschehen. Dort hat die Versammlung die Aufgabe, mit juristischem Augenmaß eine Entscheidung zugunsten von Legitimation und Landfrieden zu treffen.

Lange wurde auf der Mailingliste darüber diskutiert, ob das verkündete Ergebnis nun bestätigt,  (mit Stichwahl) ergänzt, reproduziert oder verworfen werden solle. Die Mehrheit der rechtlichen Experten war der Auffassung, dass eine Bestätigung der Liste, bzw. Nachholung der Stichwahl rechtlich zulässig sei. Die Landeswahlleiterin bestätigt dies (Hier als PDF), fügte jedoch hinzu, dass auch eine Neuwahl für die Bewertung des Landeswahlausschuss vermutlich nicht problematisch sei.

Nachwehen

Nach der LMV ging es aber auch bald mit Kritik über die Zusammenstellung der Liste los. Zu der Diskussion um die Liste habe ich ja bereits einen Blogpost geschrieben. Knut Bergmann von der “Stiftung Neue Verantwortung” war gar der Überzeugung, die Nachwahl sei “Glückes Geschick”. Denn er schrieb, nach dem er anscheinend ein Gespräch mit einigen Einzelpersonen geführt hatte, dass den Kandidaten “intern kaum jemand zutraut, eine Kampagne anführen zu können.”
Heute wurde ein Blogbeitrag veröffentlicht. Unter dem Titel “Was geschah” präsentieren sich sieben Kandidaten der verkündeten Liste und wollen Einfluss nehmen auf den Ablauf der morgigen LMV. Die genaue Forderung des Blogposts ist etwas unklar, lest am besten selbst.
Fakt ist jedenfalls, dass es am Mittwoch abend ein Treffen der “7” gab. Seit Donnerstag wird die Botschaft an verschiedenen Ecken unters Piratenvolk gestreut, dass es “sehr gut” sei, das zu tun, was in diesem Blogpost gefordert wird. Die Konsequenzen des Nicht-Tuns sind nirgendwo klar dokumentiert. Aber mehrere Kandidaten haben schon verkündet, dass sie sich im Falle der Nichtannahme der Forderungen zurückziehen würden. Der Blogpost ist seit Freitag online.

Worum gehts?

Es geht darum, dass C. Lauer auf Platz 1 der Landesliste stehen soll. Wer etwas anderes behauptet, redet einfach um den heißen Brei herum. Außerdem stehen die sich äußernden Piraten ja fast alle auf sehr aussichtsreichen Listenplätzen und die vorgeschlagene neue Liste/Reihung weicht also fast nur in dem Punkt von der verkündeten Liste ab, dass Lauer um elf Plätze nach vorne rutscht. Ob die Motivation ist, dass er einen Superwahlkamf als Listenkandidat auf Platz 1 machen wird, dass er ein Super-Abgeordneter (aber nur über den ersten Listenplatz) sein wird, dass er ab September ein festes Auskommen haben soll oder persönliche Beziehungen befriedigt werden, ist nicht wirklich zu beurteilen. Leider sind alle diese Gründe möglich und die sieben machen keine gute Figur darin, zu erläutern, welcher der Gründe es nun ist.
Ich gebe selbst gerne offen zu, dass ich schon etwas beeindruckt bin, von der Art und Weise, wie sich hier einzelne für einzelne andere ins Zeug legen. Ich gönne sowas jedem, weiß aber nicht, ob das hier gerade die richtige Stelle ist. Etwas weniger Parallele zur offensichtlich nicht aus edlen Motiven resultierenden Nibelungentreue zu Guttenberg hätte auch gleich einen besseren Beigeschmack.

Prämissen und Motivation

Ich kann viele der Begründungen für einen “Spitzenkandidaten” Lauer gut nachvollziehen. (Ich habe mich selbst allzu oft dabei ertappt, wie ich bei Pressearbeit zuerst an die Innen- und dann erst an die Außenwirkung gedacht habe, da ist er eindeutig schmerzfreier.) Aber diesem Wunsch liegen offenbar bestimmte Prämissen zugrunde. Diese Prämissen sind mindestens:
1. Die Zusammenstellung der Liste übt einen großen Einfluss auf das Wahlergebnis aus, beeinflusst dieses vielleicht sogar maßgeblich.
2. Die ersten beiden Listenplätze beeinflussen das Ergebnis besonders maßgeblich.
3. Nur auf dem ersten Listenplatz kann man vernünftige Pressearbeit machen
Ich will, was den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen angeht nicht zu sehr ins Detail gehen. Nur einige Dinge im Allgemeinen.
1. Auch C. Lauer ist nicht bekannt in unserer Gesellschaft. Und er wird es auch bis zum September nicht. Er ist vielleicht in einer winzig kleinen Blase etwas bekannter als andere, aber das war es auch schon. Dass man sich das immer vergegenwärtigt, halt ich für sehr wichtig, und wenn es nur ist, um die Demut nicht zu verlernen.
2. Die Prämisse, dass nur ein Kandidat auf Platz 1 der Liste gute Pressearbeit machen kann, teile ich nicht. Ich hätte das vielleicht mal gedacht, wurde aber eines besseren belehrt. Durch wen? Durch eben selbigen C. Lauer (ein bisschen auch durch einen gewissen Stefan “Aaron” Koenig, der sehr viel Wind – leider in die falsche Richtung – erzeugte). Er selbst hat ja gezeigt, dass man nicht den Platz 1 haben muss, um mit der Presse ins Gespräch zu kommen, warum also nun nicht nochmal?
3. Aufgabe der “7” wäre es also erst einmal, nicht nur zu behaupten, dass eine bestimmte Person auf einem bestimmten Platz stehen muss, sondern zu belegen. Das ist bisher leider vollständig unterblieben. Stattdessen wäre die Lektüre von “How to win a campaign” oder ähnlicher Literatur interessant, wie man Themen setzt, besetzt, reitet und gewinnt, sinnvoller.

Doch unabhängig von der Wahrheit und Falschheit der zugrunde gelegten Prämissen muss ich doch darauf pochen, dass wir ein Ergebnis haben, dass man nicht einfach ignorieren kann. Der Versuch, Lauer auf Platz 1 zu setzen ist an zahlreichen Stellen geschehen. Unter anderem durch die Initiative  “Getrennte Wahl des Spitzenkandidaten zur Abgeordnetenhauswahl “, die jedoch selbst nur Platz 3 erreichte. Auch trug sich Lauer selbst auf die eigens von ihm geschaffene Kategorie “Ich möchte auf Platz 1” ein (lässt sich hier in der History nachvollziehen) und wiederholte dies auch mehrfach öffentlich. So fair die ehrliche Kommuniaktion an dieser Stelle ist, so sehr muss man auch sagen, dass das natürlich auch nicht unendlich laufen kann.

Lokalisierung des Problems

Es ist nun nicht ganz klar, was der Initiative der “7” eigentlich im Kern bedeuten soll. Worum geht es, bzw. was wird eigentlich kritisiert? Das Wahlverfahren, in dem Lauer nicht gewählt wurde? Die Menschen, die in nicht gewählt haben, deren Motivation? In dem Blogpost kommt dies nicht klar heraus. Es heißt dort unter anderem:

“Nachdem ich die Rohdaten und die Visualisierungen von Jorges einer völlig subjektiven und unwissenschaftlichen Auswertung unterzogen habe, fiel mir auf, dass es eine Gruppe von ca.10 Abstimmenden gab, die mehr oder weniger identisch abgestimmt haben. Auch wenn diese Gruppe die Zusammensetzung der Liste nicht maßgeblich beeinflusst hat, hat sie zumindest ihre Möglichkeiten voll ausgeschöpft. Da haben Menschen miteinander geredet. Sie haben sich entschieden und gemeinsam gehandelt.”

Es geht wohl hier um eine Gruppe, die vornehmlich aus Reinickendorf stammte und die auffallend gleiche Wahlzettel hatte. (Ist natürlich nur Vermutung, da geheime Wahl.) Auf all diesen Zetteln war C. Lauer nun auf letzter Nein-Präferenz, noch hinter Kandidaten, von denen sicher war, dass sie nicht gewählt werden würden. Anstatt dass man nun das Wahlverfahren offen kritisiert, in dem man mit Nein-Präferenzen Leuten schaden kann (das geht nun aber in so gut wie jedem Wahlverfahren), wird hier so getan, als hätte die sogenannte Absprache etwas Widriges an sich. Dabei stand es vor der Wahl jedem frei, in jeden Bezirk zu fahren, sich dort umzuhören und informieren, welche politischen Ideen und Ziele, welche Wünsche und Kandidatenanforderungen dort vorherrschen. Wenn dies unterbleibt, muss man sich auch nicht wundern. Ach ja, in Reinickendorf ist man zum Beispiel sehr auf Bezirks- und damit Realpolitik bedacht. Dass man da mit Interviews wie diesem in den Prenzlauer Berg News nicht punktet, sollte wohl klar sein.

Geht es darum, dass manche Piraten nicht nach Kompetenz, sondern nach Sympathie wählen? Nun, das mag man ja kritisieren. Allerdings, abgesehen davon, dass auch so mancher Pirat schon Kritik an der Kompetenz von C. Lauer geübt hat, ist das wohl ein “Demokratiedefizit”, mit dem man erst einmal umgehen muss. Auch ich musste das schon feststellen. Insofern:

“Menschen wählen einen Kandidaten aus den verschiedensten Gründen. Weil sie ihn für kompetent oder geeignet halten. Weil er das kleinste Übel ist. Weil ihn schon so oft gesehen haben, mit ihm im Kindergarten waren oder einfach weil die Fresse gerade passt. Das jemandem erklären zu müssen, der meint, dass er was von PR versteht, ist schon reichlich albern.”

Zudem finden sich hier ja gerade Personen zusammen, die sagen, dass sie gut zusammen arbeiten können und die sich auch durchaus gegenseitig Kompetenzdefizite bescheinigen. Wird die Sympathie als legitimer Faktor also doch anerkannt? Oder geht es um ein gutes Team? Warum dann die vehemente Ablehnung der Teamwahlidee von Jorges und Frank Mai im Dezember/Januar durch genau diejenigen, die es nun vorschlagen? (Nachlesbar im Archiv der Berliner Liste) Oder geht es um Repräsentation? Eine Tatsache, die man mit der Auflistung verschiedener Charakteristika der “7” wohl zu erscheinen versucht: “Und ja, Merle ist eine Frau.”

Das ist aus meiner Sicht ein valides Argument. Aber wenn man aber über faire und angemessene Repräsentation spricht, wenn wir uns von dem “Alles ist offen”-Wahlverfahren verabschieden, dann sollte man auch darüber sprechen, wie man verschiedenen anderen Gruppen und Entitäten im LV eine Repräsentation gewährt. Dann sollte es einen Vorschlag geben, der die verschiedenen Squads und die Crews auf der Liste repräsentiert, nicht nur ein verkorkstes “Wählt uns bitte, aber C. Lauer auf Platz 1.” Das ist zwar eine Annäherung an tatsächlich existierende Probleme und Fragen, lässt aber alles andere, was sonst noch so daran hängt und was solch eine Entscheidung auch notwendigerweise nach sich ziehen würde (das müsste ja dann zukünftig auch für alle anderen Wahlen im LV gelten), komplett außer Acht. Wird hier die Frauenquote gefordert? Nur mal so als Frage.

In jedem Fall ist es ein sehr komplexes Feld, das man nicht einfach mal so am Abend vor der LMV erschlägt. Ich bin offen für alle Diskussionen über zukünftige Wahlverfahren, Quoten oder was auch immer man so unter dem Buzzword “Professionalisiserung” verpacken möchte.

Fazit

Ich verstehe einfach nicht, wie man so konsequent Politik gegen die Mehrheit des Willens des eigenen Landesverbands machen (versuchen?) kann. Ich meine, ich verstehe es schon. Aber es zeugt nicht gerade von guter PR, um die sich ja gerade alles dreht. Ich komme mir manchmal ja auch so ein bisschen so vor, als würde ich gegen Windmühlen anschreiben. Ich schrieb ja neulich noch “Strukturell müssen vor allem die Außenbezirke stärker in die Arbeit des Landesverbands eingebunden werden.” Dass sich als Konsequenz Leute wieder in den kleinen Kreis zusammen setzen und versuchen, ihre Probleme zu lösen, verwundert mich schon ein wenig. Lesen die etwa meine Blogposts nicht?

Eine weitere Frage, die sich aufdrängt, lautet: Wie wollen diejenigen, die sich hier aus den verschiedensten Gründen als gute Abgeordnete portraitieren, dabei aber nicht einmal in der Lage waren, die Stimmung im eigenen Landesverband zu erkennen oder für ihre Position (oder ihren Kandidaten) zu werben, die Stimmung in Berlin und die Stimmung im Abgeordnetenhaus erkennen? Und wie wollen sie dort und in Berlin auf die Willensbildung Einfluss nehmen, wenn sie es schon auf derart amateurhafte Weise im eigenen Verband versuchen?

Es bleibt jedenfalls klar, dass bei einer zu geringen Teilnehmerzahl die komplette Änderung der Liste eine explosive Wirkung haben könnte. Mindestens 70 Anwesende sollten für eine ansatzweise ausreichende Legitimation für eine neue Liste schon anwesend sein. Mal schauen, was wird.

Viel Spaß beim Abstimmen und Wählen morgen.


Flattr this

Update:
Zu Beginn der gestrigen Versamlung wurde ein Meinungsbild über die Optionen Neuwahl/Alte Liste eingeholt, welches eine überragende Mehrheit für die Alte Liste (mit oder ohne Stichwahl) ergab. Nach einer lauten Aussprache, einer intensiven, großen Gesprächsrunde während der Mittagspause und einer weiteren, aber ruhigeren Aussprache stimmte die Versammlung in geheimer Wahl mit 52 zu 31 Stimmen dafür, mit der alten Liste in den Wahlkamf zu ziehen, aber die vergessene Stichwahl nachzuholen. Die Gestichwahlten –
darunter auch drei der “7” – wurden erneut gefragt, ob sie ihre Wahl annehmen, welches sie auch taten. In den nächsten Wochen wird es weitere klärende Gespräche geben, wo auch die Frage behandelt wird, wie der Wahlkampf konkret aussehen soll. Falls es dort zu Unvereinbarkeiten zwischen Kandidaten kommt, kann es weitere Rücktritte von der Landesliste geben. Einer wurde auch bereits erneut angekündigt.
Kommentar von mir: Dies sollte aber nach gestern die Ausnahme bleiben und nicht zur Regel werden. Warum man wegen unterschiedlicher Wahlkampfvorstellungen von einer Liste zurücktritt, erschließt sich mir noch nicht so ganz. Aber da es sich hier um eine freie Gewissensentscheidung handelt, sollte man da wohl auch nicht zu tief nachbohren.

18 Comments

Are you out of your Mind!?


Last weekend Rick Falkvinge, founder of the Swedish Pirate Party gave the Keynote speech at the Pirate Parties International Conference in Friedrichshafen. The quite emotional speech is entitled “Why are you here?” Here are some quotes from it.

“Every 40 years a new generation needs to reconquer democracy.”

“Our politicians have lost the capacitiy to lie to us. And what we are fighting for will not give them back this ability.”

“We did not become politicians because we thougt it´s a quick career move, but because we felt we had to.”

“Have fun and enjoy yourselves. If you are having fun, people will come and join you.”

In this manner, have fun and enjoy the video:

Whoever wants to see more frm Rick Falkvinge should have a look at the video “Copyright Industries vs. Civil Liberties”. There he takes a look back in typical Falkvingian manner to the fight for freedom of speech and civil liberties in the past centuries. He also enlightenes us about a question that was asked a lot after the invention of the printing press: “How will the monks get paid?” Does this ring a bell? 😉

He also held this speech at the Google Developers´ Conference in 2007. It´s quite a bit older but also longer. Watch it here on Google Video.

4 Comments

Von Wahlverfahren und Strukturen – Update


Die Berliner Piraten haben gewählt. Und zwar eine Landesliste. Die Kandidaten sind bunt gemischt, von der 18jährigen Susanne Graf bis zum 68jährigen Professor Jürgen Nowak. (Hier die Liste inklusive Profile) Doch statt direkt zum Wahlkampf überzugehen, gibt es jetzt erst einmal eine Diskussion über die Zusammensetzung der Kandidaten und das Wahlverfahren (unter anderem hier). Ich nehme wohlwollend zur Kenntnis, dass ich in diesem Blogpost als Spitzenkandidat in Erwägung gezogen werde und  sehe ansonsten durchaus auch legitime Fragen und Punkte, die darin aufgeworfen werden. Leider geht er ziemlich deutlich am Thema vorbei. Denn 1. wurde das Wahlverfahren bereits auf mehreren Versammlungen in Berlin erfolgreich ausgetestet und die Effekte sind bekannt (kurzer Überblick dazu bei Plätzchen) 2. steht es nicht gut an, den Ausgang einer demokratischen Wahl zu kritisieren, weil einem das Ergebnis nicht passt und 3. unterstellt der Autor den Berliner Piraten, dass sie bei der Wahl der Liste die PR-Wirksamkeit durch Spitzenköpfe im Blick hätten (oder haben müssten), wie dies bei anderen Parteien üblich ist, ohne dies durch Gespräche zu verifizieren oder überhaupt in Erwägung zu ziehen, dass das Ergebnis ja vielleicht gerade das Gegenteil seiner Suggestion bedeuten kann.

Wer meinen Spitzenkandidaten als Mittelmaß bezeichnet, soll mir erstmal erklären, nach welcher Skala er Menschen misst und warum diese eine höhere Legitimation als die demokratische Wahl besitzt.

Die Crew Prometheus Friedrichshain-Kreuzberg hat über Anforderungen an Kandidaten diskutiert; ich weiß, dass andere Gruppen ähnliches getan haben. Dass man bei der Kandidatenwahl nicht nur auf die Befähigung für das Abgeordnetenhaus, sondern – gerade bei Unsicherheiten bezüglich des Einzugs – auch auf die Qualitäten im Wahlkampf, ist klar. Aber dass ein erfolgreicher Wahlkampf zum Großteil oder ausschließlich von Spitzenkandidaten, an denen man sich reiben kann, abhängen soll, stelle ich erst einmal in Zweifel. Eine hohe Identifikation anhand von Berufen, Geschlecht etc. ist da mindestens genauso wichtig. Ansonsten ist immer noch nicht die Frage beantwortet, wie unsere Forderungen nach basisdemokratischen Verfahren, mehr Demokratie, Kumulieren und Panaschieren mit dem Konflikt nach der perfekt öffentlichkeitswirksamen Landesliste wirksam in Einklang zu bringen ist.

Natürlich gibt es verschiedenste Möglichkeiten, eine Liste aufzustellen. Die schwedischen Piraten haben 2009 ihre Liste für die Europawahl auch nicht komplett “frei” aufgestellt, sondern in einer Kommission vorsortiert und dann noch durch die Versammlung bestätigen im minimalen Rahmen modifizieren lassen. Aus der Persepektive der Öffentlichkeitsarbeit macht dies natürlich durchaus Sinn. Die Konzentration darauf, dass provokante Gesichter (zu denen ich anscheinend von einigen auch gezählt werde) auf den vorderen Plätzen fehlen, verkennt jedoch völlig, dass Wahlverfahren und Wahlausgänge nicht allzu eindimensional interpretiert werden dürfen. Dass ein Professor, der im Landesverband außerhalb seines Bezirks bisher noch kaum wahrgenommen wurde, vor den Politischen Geschäftsführer, der schon Dutzende, zum Teil sogar hervorragende Interviews gegeben hat, gewählt wurde, kann man auf vielerlei Weise interpretieren. Zu dem Respekt vor der akademischen Leistung und der Lebenserfarhung des emeritierten Professors kam sicherlich auch die Hoffnung, dass der Pensionär im Wahlkampf viel Zeit haben würde, oder auch die Hoffnung, dass durch die Einbindung eines Reinickendorfers, die ganze Crew sich auch auf Landesebene stärker integriert fühlen würde oder das Bedürfnis nach einem Ausgleich zu den vielen Unter-Dreißigern auf der Liste. Manch ein Pirat wollte sicherlich auch mit seiner “Nein”-Stimme  eine Botschaft senden; selbst die konsensfähigsten Kandidaten kamen nicht mit weniger als 10 davon.

Wer dann aber im Nachhinein aufgrund des Ergebnisses der demokratischen Abstimmung das Wahlverfahren als “Fuckup” bezeichnet, der muss sich schon leichte Realitätsverzerrung bescheinigen lassen. Er verkennt zum Beispiel, dass der von ihm thematisierte Kandidat doppelt so viele Letztpräferenzen wie jeder andere gewählte Kandidat bekam und sogar fast gar nicht auf der Liste gelandet wäre. Auch dass die Stimmung in einigen Bezirken, gerade auch in denen außerhalb des S-Bahn-Rings, nicht besonders gut war. Daher muss man sich auch ernsthaft fragen, ob sich bei einer Einzelplatzwahl manche – auch eher bekanntere – Kandidaten letztendlich nicht vielleicht sogar meinem Goldfisch in der Kampfabstimmung unterlegen gewesen wären. Dass sich unsere Stellvertretende Landesvorsitzende, Manuela Schauerhammer, noch auf den letzten Metern als Kandidaten zurückgezogen hat, und nun auch unsere ehemalige Berliner Pressesprecherin zurückziehen will, war sicherlich nicht ausschlaggebend für die Wahl, aber es zeigt, dass Dinge schief liefen und sollte uns zum Nachdenken darüber bringen, was wir besser machen können.

Das gewählte Wahlverfahren und dessen Ausgang sagt viel über die Stimmung im Landesverband und die nächsten Schritte, die wir gemeinsam gehen müssen.

Als nächstes wird es wichtig sein, dass wir uns vor allem strukturell auf den Wahlkampf vorbereiten. Wir müssen attraktiver werden für die Mitglieder, die sich in den letzten Monaten zurückgezogen haben. Strukturell müssen vor allem die Außenbezirke stärker in die Arbeit des Landesverbands eingebunden werden. Einige, wie Treptow-Köpenick, Marzahn-Hellersdorf  oder Spandau sollten zudem strategisch gestärkt und im Wahlkampf unterstützt werden. Unsere Kandidaten müssen geschult und vorbereitet werden. Dass man bei einer zukünftigen Wahl über eine Landesliste mit einem eingespielteren Team und weniger Unruhe auch über ein anderes Verfahren nachdenken kann – geschenkt. Es gibt viel zu tun und mit einer Diskussion über das im Liquid Feedback und auch auf der Wahlversammlung ausgewählte Wahlvefahren lässt sich sicherlich kein Staat machen.

Update: Leider gab es ganz unabhängig von der letztendlichen Zusammensetzung der Liste Fehler bei der Auswertung der Liste. (siehe Erklärung des Wahlleiters) Der Berliner Landesvorstand hat sich auf einer gestrigen Sondersitzung für das Abhalten einer weiteren Wahl-Landesmitgliederversammlung ausgesprochen. (Beschluss)
Da ich mich bereits FÜR die Beibehaltung und Unterstützung der aktuellen Liste ausgesprochen habe, tue ich dies natürlich auch weiterhin. Hier geht es zu einem Antrag im Berliner LiquidFeedback, der dieses fordert. Abschließend bleibt mir nur zu sagen:

Demokratie ist manchmal echt anstrengend.

7 Comments

It´s not over, yet!

Gestern besuchte ich den Europäischen Polizeikongress. Dieser ist eine Lobbyveranstaltung der Sicherheitsindustrie, auf der sich Lobbyisten, Polizei- und Sicherheitsbeamte und Politiker treffen. Dabei bleiben sie am liebsten unter sich. Wer keinen Presseausweis oder den einer Hilfsorganisation hat, kommt nur für 850 Euro ins Gebäude. Und in die Fachtagungen kommt man mit dem Ausweis auch nicht rein. Thema der Veranstaltung war Integration/Migration. Dementsprechend habe ich für den Freitag einen Artikel über die Ansätze zur Steuerung der Migrationsströme geschrieben.

Was war noch?

Ach ja, Cecilia Malmström war dort. Die EU-Innenkommissarin ist nicht nur zum Thema Vorratsdatenspeicherung mit dem Auspruch “data retention ist here to stay” aufgefallen, sondern 2010 auch mit einem Vorschlag zu einer europäischen Initiative für verpflichtende Netzsperren. Mittlerweile sieht es so aus, als wenn das Parlament diesem Vorschlag nicht folgen und stattdessen Netzsperren nur optional, dafür aber unter Richtervorbehalt beschließen wird. Ich fragte sie, ob sie dies als persönlichen Fehlschlag wertet und was die Kommission jetzt vorhabe. Sie antwortete quasi wörtlich:  “Ich habe schon sehr viel Politik gemacht. Und wenn ich jedes Mal, wenn etwas nicht so umgesetzt wird, wie ich es mir wünsche persönlich nehmen würde, dann wäre ich nicht mehr lange dabei. […]” Sie führt aus, wie schlimm Kinderpornographie (wobei ich absichtlich nach child abuse material gefragt hatte) sei, wozu der Moderator zustimmend und betroffen mit dem Kopf nickte. “Ich stehe  immer noch hinter meinem Vorschlag und bin dabei mit Parlament und Rat zu verhandeln.” Und dann noch: “Its not over.”

Malmström sollte eigentlich um 16 Uhr auftreten. Ihr Auftritt wurde jedoch kurzfristig auf 12 Uhr gelegt. Trotzdem kamen dort Protestierer von verschiedenen Gruppen, unter anderem der Piratenpartei. Fotos dazu gibt es auf der Event-Seite des AK Vorrat.

0 Comments

Teppiche gesucht!

Mein heutiger Besuch bei Berliner politischen Gremien führte mich in den Integrations- und Migrationsausschuss der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg. Dieser traf sich diese Woche zu seiner regulären Sitzung (Kurzprotokoll hier) im Kreuzberger Flüchtlingswohnheim an der Zeughofstraße 12-15. Das Flüchtlingsheim liegt direkt hinter der Emmauskirche im nordöstlichen Kreuzberg. Die Gegend ist gut, Übergriffe auf Flüchtlinge gibt es in diesem Teil von Berlin nicht. Christa Gunsenheimer, die Heimleiterin, führt uns durch die Gänge und Räume, zeigt uns das Haus und beantwortet geduldig unsere Fragen. Das Heim verfügt über Zimmer mit je 2-4 Bett en auf 3 Etagen. Dazu kommen Café- und Aufenthaltsräume, sowie ein Spielzimmer, in dem die Kinder von Sozialarbeiterinnen betreut werden können, wenn die Eltern einen Termin wahrnehmen wollen. Viele der Zimmer sind für Familien gedacht. Eine Familie von 4 Personen kann in der Regel in zwei Zimmern wohnen, davon eines als eigenes Wohnzimmer nutzen.

Fast alle Bewohner kommen aus der Erstaufnahmestelle in der Motardstraße 101a. Viele sind Folteropfer und Traumatisierte, viele haben Drogen- und Alkoholprobleme. Christa Gunsenheimer beklagt die mangelnden Möglichkeiten der Betreuung. Die meisten der etwa 170 Bewohner kommen aus Afghanistan, dem Iran und dem Irak. Dazu kommen noch viele Roma aus Serbien und dem Kosovo und einige Tschetschenen aus Daghestan. Die wenigen Vietnamesen, die hier ankommen, sind meist schnell in ihre Community integriert. Dann sind sie plötzlich nicht mehr da. Das vorzeitige Verschwinden kann also ein gutes, aber auch ein schlechtes Zeichen sein. Denn die Dunkelziffer derjenigen, die in die Kriminalität abrutscht, ist hoch. Zudem finden sich viele Frauen in der Prostitution wieder. Bei den Männern überwiegt der Schwarzmarkt, zum Beispiel der Handel mit Zigaretten. Juristisch befinden sie sich hier in einem Schwebezustand, da sie noch vor dem Status der Duldung sind. Aus diesem Schwebezustand heraus haben sie kaum Möglichkeiten, Jobs oder Wohnungen zu finden. Etwa die Hälfte kann dann aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention in Deutschland bleiben, der Rest geht in die Duldung über. Bewohner bekommen nach Asylbewerberleistungsgesetz €210. Wer es schafft, in Hartz4 zu wechseln, muss das Haus verlassen.

Die Höhe der Finanzierung des Hauses ergibt sich aus einem Satz, der € 10,50 pro Nacht und pro Person beträgt. Darüber wird alles bezahlt, auch das Wachpersonal. Das ist notwendig, damit die Regeln eingehalten werden, damit nach 22 Uhr kein Besuch mehr kommt und damit die Frauen sich in der Anwesenheit der vielen Männer sicher fühlen. Gleichzeitig übernimmt das Wachpersonal, das ebenso multiethnisch zusammengesetzt ist wie das Betreuungspersonal, auch Übersetzungsaufgaben. Durch Kürzungen und Verwaltungsreformen sind in der letzten Zeit einige Kräfte weggefallen. Zwei ÖBS-Kräfte für die gemeinsame Betreuung von Migranten und Senioren gibt es nicht mehr. Und ganz kürzlich sind zwei MAE-Kräfte (Ein-Euro-Jobber) weggefallen, die bei der Hausarbeit halfen, zum Beispiel beim Flicken von Kleidung und Bettwäsche. Das zu ersetzen wird schwer. Umso wichtiger werden nun die Spenden. Neben eben genanntem werden dringend Möbel gesucht. Und, wie Christa Gunsenheimer betont, Teppiche. Viele der Flüchtlinge wollen nicht am Tisch sitzen, sondern präferieren Teppiche. Diese kann sich das Heim jedoch nicht leisten. Wer seinen alten Teppich also nicht mehr sehen kann, sollte diesen nicht gleich wegschmeißen, sondern stattdessen ins Kreuzberger Flüchtlingsheim in der Zeughofstraße 12-15 bringen.

1 Comment